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Die besten Alben im 2. Halbjahr 2016

Alles was sonst nirgends passt!

Die besten Alben im 2. Halbjahr 2016

BeitragAuthor: Tuxman » Di 31. Jan 2017, 01:07

Wie, was, 2016 ist schon lange vorüber? Zum Glück habe ich gewartet. Das könnte man für schlecht halten, aber statistisch gesehen ist es gut, denn 2016 hat nicht nur die Ankündigung der baldigen Auflösung von The Dillinger Escape Plan, sondern auch eine ganze Reihe an Toden auf der Rechnung, darunter nicht nur diverse ehemalige Politiker der F.D.P., sondern vor allem auch Musiker. Nach Wolfgang Rohde (früher mal Die Toten Hosen), Hagen Liebing (früher mal Die Ärzte) und Chris Squire, dem letzten in der Band verbliebenen Gründungsmitglied von Yes, sowie vielen anderen hat es vor einigen Wochen schließlich auch den großartigen Greg Lake erwischt, und auch für Leonard Cohen wäre es zu spät, seinem letzten Album "You Want It Darker" einen gebührenden Preis zu verleihen, über das andererseits jedes geschriebene Wort sowieso und ohnehin Blasphemie gliche.

Schon früher im abgelaufenen Jahr allerdings schien es mir nicht verfehlt, lobende Worte über einige der großartigsten Musikalben des Jahres zu finden, darunter katie deys flood network, MaidaVales Tales of the Wicked West, misophonia von Electric Orange sowie das Debütalbum von Moon Circle.

Im Folgenden findet ihr, was bis jetzt noch fehlte, nämlich die bislang noch unrezensierten Alben des Jahres. Vielleicht ist ja was für euch dabei?

1a. Starker Stoff

  1. Arbor Labor Union - I Hear You (Cover)
    "I live in a song / I dance when it’s played." (Volume Peaks)

    Das fängt ja gut an.

    Die Gartenarbeitervereinigung - prima Bandname auch - aus Atlanta bereicherte die Welt im Mai 2016 mit ihrem Zweitling "I Hear You" und damit mal eben mit einem dieser Alben, die mich meine Wahl zum Album des Jahres noch mal ernsthaft überdenken lassen. Vermutlich ist es mit "cool", sofern der Begriff zusagt, nicht völlig unzureichend beschrieben, Spaß macht es auf jeden Fall, und das ab der ersten Sekunde: "Mr. Birdsong" beginnt stimmig mit instrumentaler Vogelimitation, bevor es ordentlich zur Sache geht.

    Stilistisch bewegen sich Arbor Labor Union im dreckigsten der Garagenrocks (meinten Sie: Röcke?), irgendwo zwischen Pearl Jam und den Dandy Warhols bis hin zu einer erstaunlichen Ähnlichkeit zu den ersten zwei monoton-hypnotischen Platten von The Velvet Underground ("I Am You"), wenn nicht gerade der hier ebenfalls vollkommen überdrehte - also fast wie früher - Postpunk ("Radiant Mountain Road") die Führung übernimmt, der gleichfalls das Monoton-Hypnotische gar nicht erst zu verbergen versucht. Macht euch auf treibende Gedanken gefasst. Der hektisch-verwirrte Gesangsstil des Frontmanns Here Orr (ich würde annehmen wollen, hier handelt es sich um einen Künstlernamen) passt großartig zu der pulsierenden Instrumentalarbeit. Vergleiche, wenn's denn nötig scheint: Mark E. Smith, Julian Casablancas, Doug Yule (und das ist positiv gemeint). Bingo.

    Die Plattenfirma der Arbor Labor Union heißt "Sub Pop" und ich habe wirklich schon mal weniger passende Namen von Plattenfirmen gesehen. Arbor Labor Union, ich höre euch. Und das wirklich gern.

    Reinhören: Auf Bandcamp.com gibt es "I Hear You" nicht nur als schickes rosa Vinyl ("Loser Edition", ohne Punkattitüde geht es nicht), CD und blaue Kassette zu kaufen, sondern auch als kostenlosen Komplettstream. Ich kann dazu durchaus raten.

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  2. Ziguri - onetwothreefour (Cover)
    "Die Explosion in deinem Kopf lässt Paradies und Hölle bersten." (Apricot Brandy III)

    Günter Schickert ist wohl ein Vertreter dessen, was gemeinhin ein Urgestein genannt wird: Seit der ersten Hälfte der 1970er Jahre spielte und spielt er mal zusammen mit Klaus Schulze, mal solo (zuerst 1974 mit "Samtvogel"), mal mit eigenen Gruppen weitgehend instrumentalen Krautrock im Stil der Berliner Schule. Als "handgemachten Dancefloor" bezeichnet den Stil zumindest die Plattenfirma Sireena Records, was irgendwie auch stimmiger scheint.

    Ziguri, laut Internetinformationen (sagt man das noch so?) in der Sprache der Tarahumara der Name des halluzinogenen Peyote-Kaktusses, ist eine dieser eigenen Gruppen, deren Geschichte bis in die auslaufenden 1980-er Jahre zurückreicht. Das Trio aus Günter Schickert (Gitarre, Blasinstrumente, Gesang), Udo Erdenreich (Bass, Gesang) und Dieter Kölsch (Schlagzeug, Gesang) spielt bis heute anscheinend in der Ursprungsbesetzung miteinander, was zumindest eine fruchtbare kreative Zusammenarbeit suggeriert.

    Wobei der Krautrock ja schon immer unter seinem Etikett zu leiden hatte; Kraut ist oft im Wortsinne drin, Rock hingegen bleibt aus. So natürlich auch hier: Das Geschehen wird bestimmt von tranciger Instrumentalmusik im besten Sinne, mal dem Postrock nahe ("Radio Bilsga"), mal eher dem, was die Welt der Psychedelia so hergibt ("Skykiss"). Dass die drei Herren sich selbst nicht furchtbar ernst nehmen, schlägt mindestens ein auf YouTube zu findendes Video zum Stück "SunSonsSans" (manchmal auch mit Leerzeichen geschrieben) vor, und das merkt man über die gesamte Länge des Albums hinweg.

    Wobei das Album ja eigentlich wiederum zwei Alben in einem ist bzw. sind: Die drei Bonusstücke "Hotel Babel", "DiaLekT" und "Apricot Brandy III" sind Reste von alten Aufnahmen von 1993 und 1996, wobei das gleiche Stück unter dem Namen "Apricot Brandy" bereits auf dem Debütalbum zu hören war und offensichtlich eine Überarbeitung von "Apricot Brandy" von "Samtvogel" ist; "Apricot Brandy III" ist auch das einzige der drei Stücke, an denen Günter Schickert wieder beteiligt ist, die anderen beiden sind stattdessen in völlig anderer Besetzung und mit Sängerinnen aufgenommen worden. Nichtsdestotrotz sind sie als musikalische Zusammenfassung von "onetwothreefour" nicht völlig deplatziert, bilden sie doch dessen stilistische Bandbreite ganz gut ab. "Hotel Babel" ist eine Vertonung eines Gedichts des mir bislang unbekannten Dichters Guillaume Apollinaire als groovender Jazzrock mit reichlich Trompete, "DiaLekT" mag man mit seinem afrikaartigen Trommelrhythmus und dem seltsamen Hintergrundgesang wohl eher unter Weltmusik einsortieren, wenn auch als solche, deren Erschaffer vom Spacerock zumindest schon mal was gehört haben. "Apricot Candy III" schließlich könnte mit seinem bühnensketchartigen Aufbau einerseits und der Elektronikverliebtheit andererseits - überall flirrt, klirrt und zwitschert es - auch von Grobschnitt oder Can stammen, mit deren Interimssänger Damo Suzuki die drei Musiker bereits eine Bühne teilten.

    Die drogenschwangeren 1970er denken gar nicht daran, aufzuhören. Das ist ein gutes Zeichen.

    Reinhören: Neben besagtem Video gibt es auf Dieter Kölschs YouTube-Kanal noch manch weiteren Ausschnitt aus "onetwothreefour", auf Amazon.de kann man ebenfalls überall mal reinhören. Viel Vergnügen.

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  3. Ahkmed - The Inland Sea (Cover)

    Kommen wir von ein bisschen Postrock zu richtigem Postrock, nämlich zu "The Inland Sea" von Ahkmed, die trotz des Namens ein australisches Trio sind und deren Debüt "Distance" Anlass zur Freude gab. Dass die Plattenfirma Elektrohasch (Colour Haze u.a.) durchaus nicht für besonders schlechte Musik bekannt ist, sollte sich bereits herumgesprochen haben, ansonsten hilft "The Inland Sea" bei der Ruffestigung sicherlich erneut.

    Mit fünf Stücken von zwischen zehn und zwanzig vollen Minuten Länge gefällt "The Inland Sea" schon oberflächlich, und der Schein trügt diesmal nicht: Ich höre Stoner Rock, aufgelockert durch Drones und das Ganze in einen brodelnden Postrockkessel gekippt. Weitgehend instrumental findet "The Inland Sea" statt; ein Teil der Platte hat durchaus Gesang, aber der geht nicht nur unter, weil's erstens mit ordentlich Hall versehen ist und zweitens der Rest den Geist entführt, sondern dabei auch noch ziemlich gut ab, und das schon ab dem ersten Takt: "Kaleidoscope" beginnt mit reichlich fuzz vom Gitarristen Carlo Iacovino, der schon bald von einem sehr eigenartigen Perkussionsrhythmus und einem kaum hörbaren, wohl aber spürbaren Bassfundament unterstützt wird, dessen Erzeuger, der neue Bandbassist Finn Rockwell, nach etwa der Hälfte der Zeit einen getrageneren Zwischenteil solistisch einleiten darf, bevor seine beiden Mitmusiker erneut einsteigen, dem Bass jedoch einigen Freiraum lassen, um sich zu entfalten, was hier keineswegs irgendwelche wilden Eskapaden bedeuten soll. Die Band lässt sich nicht beirren, hier werden Melodien eben auch mal zehn (oder mehr) Minuten lang wiederholt. Langweilig? Nein, nein, "Kaleidoscope" ist schon ein treffender Name. "Dreamland" hätte es aber auch getroffen.

    Das folgende Titelstück mag sich zum Reisen wohl eignen: Die plötzlich schneidende Gitarre und der treibende beat leiten allmählich über in eine neue Traumsequenz, bevor das Stück erneut anschwillt. Einzelne Wortbeiträge von Schlagzeuger John-Paul Caligiuri schallen unwirklich aus der Farbenwelt. Auch in "Last Hour of Light" sind vier Minuten dem Spacerock mit Gesang (Pink Floyd gehören überhaupt viel häufiger mal derart unaufdringlich gewürdigt) gewidmet, bevor ein ungewöhnlich cleanes (also erfrischend unverzerrtes) Gitarrenriff, das mit seiner Eingängigkeit diesen elenden Suchtfaktor nochmals potenziert, sich unbeirrt in den Verstand des unbewaffneten Hörers ergießt, während es mal im Vordergrund, mal im Hintergrund trommelt, blubbert und vor allem fließt. Nach wiederum etwa der Hälfte des Stücks soliert erneut der Bass; Zeit zum Ausruhen? Die nächsten Minuten verbringt man jedenfalls im Schwebezustand, bevor die Geräuschkulisse quietschend eine Notbremsung einlegt. Keine Angst, es geht gleich weiter: "Pattern of Atolls" spendiert der Gitarre, die den Hörer mit einer anderen, aber wieder grandiosen Melodie auf eine weitere Reise zu schicken beabsichtigt, eine Extraportion Effekte. John-Paul Caligiuri trägt erneut für wenige Augenblicke unwirklich scheinenden Gesang bei, ach was: Sprechgesang, bevor es erneut in höhere Sphären geht. Moment, war da was? Die kurze Ablenkung durch's Drübernachdenken wird bestraft: Das Stück reißt plötzlich ab und macht einem wütend klingenden Intermezzo Platz, in dem Schlagzeug und Bass geradezu Kriegslärm zu simulieren scheinen, während John-Paul Caligiuri Verse deklamiert. Müsste ich unbedingt etwas an "The Inland Sea" auszusetzen haben, ich wählte die unverständlichen Texte und würde das sofort wieder zurücknehmen wollen, denn wenn man auf eines hier auf keinen Fall achten sollte, dann sind es die Texte. Mit "The Empty Quarter" schließlich beenden Ahkmed "The Inland Sea" stilvoll, mit einer Viertelstunde feinsten Postrocks ohne besondere Vorkommnisse, mit einem sehr angenehmen letzten trip also.

    "The Inland Sea" ist unbegreiflich intensiv. Geile Scheibe.

    Reinhören: Auf Bandcamp.com gibt es Stream und Kauf.

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  4. T E Morris - Newfoundland (And Of That Second Kingdom Will I Sing) (Cover)
    "Do you feel like you're at home?" (A Year In The Wilderness)

    Her name is Calla sind hier längst Stammgäste, erst Ende 2015 fanden sie an dieser Stelle lobende Erwähnung und auch ihr aktuelles Album "Newfoundland (And Of That Second Kingdom Will I Sing)" - dieser Name! - ist erneut eines, das in gewohnter Qualität Gewohntes, bezaubernd und zerbrechlich wie es eben nur die sechs Musiker aus Leeds hinbekommen, bietet.

    Moment - steht da nicht ein anderer Name auf dem Titelbild? Doch: Veröffentlicht wurde "Newfoundland" zwar über die gewohnten Vertriebskanäle von Her name is Calla, seinen Namen auf's Album ließ jedoch Tom Elliot "T E" Morris, Sänger und Gitarrist und Pianist und Synthesizer- und Banjospieler von Her name is Calla, schreiben. Dass trotzdem die gleiche Besetzung zu hören ist und augenscheinlich T E Morris nur innerhalb des Bandkontextes Musik veröffentlicht, lässt den Rezensenten zwar einigermaßen verwundert zurück, schmälert aber die weitere Bewertung der zu hörenden Musik keinesfalls. Gehen wir also davon aus, dass da, wo T E Morris draufsteht, grundsätzlich Her name is Calla drin ist, so gibt es allerdings einen bitteren Beigeschmack: Während die Band selbst laut sozialen Medien fleißig an neuem Material (also: Musik) arbeitet, wird "Newfoundland" zumindest das letzte, wie auch immer man das definieren möchte, Soloalbum von T E Morris sein, der im November das Ende seiner Solokarriere bekanntgab. Möge es ihm wohl ergehen.

    Die Annahme, dass traurige Menschen bessere Musik machen, findet auf diese Weise allerdings zumindest eine bedrückende Bestätigung. Zu einem Jahr wie 2016 passt dieses Album wie kaum ein zweites; überhaupt:

    It’s a sad and beautiful world.


    Dies, was sonst?, ist die Begleitmusik dazu.

    Reinhören: Wie bislang ist auch diesmal Bandcamp.com eine exzellente Anlaufstelle für's Streamen und Kaufen.

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  5. Autumnal Blossom - Spellbound (Cover)

    Bleiben wir im Genre, bleiben wir beim Wunderschönen.

    Autumnal Blossom kommen aus Rheinland-Pfalz und bestehen im Wesentlichen aus Pia Darmstädter (Flöte, Gesang, Tasteninstrumente), die mit Poor Genetic Material auch ganz anders kann, nebst fünfköpfiger Herrenband. Das Internet vergleicht die auf "Spellbound" zu hörende Musik mit der grandiosen russischen Musikgruppe iamthemorning. Das ist nicht die schlechteste Referenz.

    Von Anfang an wird eine intime Stimmung aufgebaut: "Because I Could Not Stop For Death" ist Pia Darmstädters Stimme über sanft wolkigen Klängen, was sich ungefähr anhört, als hätte Nico zur Abwechslung mal keine Drogen vor'm Musizieren genommen oder als hätten die Raveonettes versehentlich den Verzerrer zu Hause gelassen. "Memories Of A Child" leitet anschließend den zweiten und längsten von insgesamt drei Teilen - hier: "Diaries Of An Estranged Voyager" - ein. "Spellbound" ist immerhin auch ein Konzeptalbum. Passend zum Titel hört man hier eine Spieluhr, außerdem Flöte, Gesang und Klavier. Ich bin versucht, den Genreaufkleber "Folk" aus der Schublade zu holen.

    Überhaupt würde sich der Folk auf "Spellbound" wie zu Hause fühlen, und er könnte den Folkrock gleich mitbringen, wenn es etwa gegen Ende von "Memories Of A Child" kaum überraschen würde, spränge gleich Ian Anderson wie ein Derwisch vor das Mikrofon und sänge den gleichen Text; es fiele nicht einmal auf. "One day seemed as long as a lifetime / in this never-ending dream", jawohl.

    "Paradise", der letzte Teil (und auch das letzte Stück) von "Spellbound", setzt abermals einen Kontrast: Im Gegensatz zum Liedtitel wirkt die Musik hier eher bedrohlich, gar postapokalyptisch. Dröhnen, Brummen, kalte Mechanik dominiert das Geschehen (habe ich schon Nico erwähnt?). Allein: Es gibt Hoffnung. "Paradise is not so far away / paradise is here every day", trotzdem und vor allem. Die wenigen Popmomente auf "Spellbound" (vgl. "My Blood") geraten immer noch überdurchschnittlich gut, auch, wenn der schwebende Gesang hier oft ein wenig deplatziert wirkt - und gerade das macht seinen Reiz aus. Zusammengefasst mag die Eigenbeschreibung von der Website zum Album aber auch genügen:

    "Spellbound" ist eine Mischung aus Geschichte, Fiktion und Realität - nie vergessene Episoden eines Lebens - durch Erinnerung unsterblich - ein Tagebuch, in dem sich der Zuhörer wiederfinden kann - ein Buch der Hoffnung - ein Ja zum Leben.


    Kann man so stehen lassen.

    Reinhören: Es kann neben Amazon.de auch, unter anderem, TIDAL als Hörprobenursprung genutzt werden.

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  6. King Gizzard & The Lizard Wizard - Nonagon Infinity (Cover)
    "Loosen up, tighten up, fuck shit up, don't forget about it" (Robot Stop)

    Genug des Schwelgens, es darf wieder gepfeffert werden. King Gizzard & the Lizard Wizard stammen aus Australien und erlauben sich mit "Nonagon Infinity", ihrem achten Studioalbum und dem einzigen aus dem Jahr 2016, eine kurze Pause, bevor sie sich daran machen, ihre Ankündigung, 2017 ganze fünf Alben zu veröffentlichen, in die Tat umzusetzen. Eilig gilt es also dieses Album zu besprechen, bevor es zu spät ist.

    Dabei gibt es allerdings ordentlich zu tun, denn King Gizzard & the Lizard Wizard geben sich mit Schubladen lieber nicht ab. Mr. Bungle, die Melvins, Primus, Indierock, Punkrock und sogar Zeuhl ("Invisible Face") drängen sich hier so dicht aneinander, dass man sich beinahe bemüßigt sieht, ein wenig mit den einschlägigen Gliedmaßen zu wackeln, während man immer noch nicht ganz versteht, was da eigentlich gerade auf einen niederprasselt.

    Dies im Übrigen schon ab dem ersten Moment: "Robot Stop" prescht voran, als würden sich Hawkwind am Punkrock versuchen. Ein kurzer orientalisch klingender Einschub setzt schon hier einen Kontrapunkt. "Robot Stop" geht direkt über in "Big Fig Wasp", das ein wenig das Tempo drosselt, bevor mit "Gamma Knife" abermals das Thema von "Robot Stop" aufgegriffen wird. Wer jetzt annimmt, dass "Nonagon Infinity" seinen Namen doppelbödig trägt, der hat vollkommen Recht: Die neun Lieder bilden nicht nur ein einziges zusammenhängendes, sondern der Schluss des letzten Liedes "Road Train" passt auch noch ganz gut zum Beginn von "Robot Stop", man könnte "Nonagon Infinity" also durchaus ohne merkliche Unterbrechung in Wiederholung hören.

    Die Gefahr, dass man es irgendwann nicht mehr hören kann, ist dabei zwar möglich, aber King Gizzard & the Lizard Wizard versuchen Langeweile durch immer neue Ideen zu vermeiden: Das vierte Stück "People-Vultures" variiert das Ursprungsthema bereits ausreichend ins Spacige, um den Übergang in das völlig andere "Mr. Beat", das sozusagen den Geist des psychedelischen Hardrocks der 1970er Jahre atmet, Klischee-Synthieorgel selbstverständlich eingeschlossen. Stu Mackenzies Gesang fügt sich hier natürlich nahe den Beatles ein, einzig der hektische Refrain setzt einen Kontrast. Mit "Evil Death Roll", das wiederum das Thema aus "Robot Stop" variiert, wird dieser Ausflug aber auch schon wieder beendet, erstmals gesellt sich hier zum Ende hin Jazzrock zur Genremischung hinzu, auf die Spitze getrieben im folgenden Liedduo aus "Invisible Face" und "Wah Wah", das hüpfenden Fusion nahtlos integriert. "Wah Wah" zitiert melodisch aus KISS' "I Was Made For Loving You", eine Absicht mag Versehen sein, und tatsächlich zieht das Tempo hier wieder merklich an, bevor das Album mit "Road Train" zu "Ende" geht und mich einigermaßen ratlos zurücklässt.

    Zum Glück muss ich hier keine Punkte vergeben. Fest steht: "Nonagon Infinity" ist wirklich beeindruckend. Wie beeindruckend? Nun, das bleibt dem geneigten Leser überlassen.

    Reinhören: Stream und Kauf gibt es mal wieder auf Bandcamp.com - immer wieder.

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  7. Crobot - Welcome To Fat City (Cover)
    "Who paid your debt to be here?" (Not For Sale)

    Crobot, ihrem Namen zum Trotz, haben zu meiner großen Freude mit dem Pandarapper Cro nichts Weiteres gemein. Ihre Hintergründe liegen ein wenig im Dunklen, die Legende will es, dass ihre Gründer einst in einer anderen Musikgruppe zusammen spielten, sich aber vor wenigen Jahren entschlossen, als Crobot zusammen zu spielen. Inspiration für das neue Album "Welcome To Fat City", so behaupten die derzeit vier Herren, sei Hunter S. Thompson gewesen, was mal eine angenehme Abwechslung zu dem üblichen namedropping mit irgendwelchen Allerweltsbands ist.

    Musikalisch ist "Welcome To Fat City" eigentlich ein prima Sommeralbum. Mein timing war auch schon mal besser. Desert Rock in der dreckig-bluesigen Variante wird gespielt, Mundharmonika ("Easy Money") eingeschlossen. Wolfmother und Led Zeppelin sind willkommene Vergleiche für Leute wie mich, die auf so Musik immer nur eher zufällig aufmerksam werden. Das ist dann oft ziemlich erfreulich.

    "Welcome To Fat City" nimmt keine Gefangenen. Chris Bishops Gitarre geht auf Frontalkurs, während die Rhythmusabteilung aus Paul und Jake Figueroa alles niederwalzt, was sich ihr in den Weg stellt, um final Platz zu schaffen für Brandon Yeagleys extrovertiert-aufgeputschtes Rockorgan. Springt, ihr Narren, und wahrlich, zum Stillsitzen animiert "Welcome To Fat City" keineswegs, vielmehr findet man sich schon nach wenigen Minuten wild luftgitarrend unter dem Kopfhörer wieder, statt hier endlich mal was zu schreiben. Verzeihung, aber: Boah, geht das gut ab.

    Ich bin versucht anzunehmen, "Crobot" sei in irgendeiner von mir nicht aktiv verstandenen Sprache ein Synonym für das, was in anderen Sprachen schlicht coolness heißt. (Ohne zu unterstellen, dass das Referenzstück für coolness, Lou Reeds unübertroffenes "Kicks" nämlich, auch nur ansatzweise so ähnlich klingt, versteht sich.)

    Reinhören: Warum nicht mal auf Amazon.de oder TIDAL?

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  8. Friends of Gas - Fatal Schwach (Cover)
    "Definiert / durch keinen Kern" (Einknick)

    Irgendwann im Laufe des noch jungen Jahres 2017 bemühte sich ein unklar Bekannter um meine Teilnahme an einem Konzert der grundbekloppten Dadaband HGich.T. Es war sehr, sehr furchtbar, vor allem musikalisch. Mit furchtbaren Texten hingegen habe ich schon deutlich weniger Probleme, ein minimalistisch-elektronisches Klanggewand ist auch nicht immer zu verachten, wie jene Leser, die hier trotzdem immer wieder einmal reinschauen, sicherlich bereits wissen.

    An ungewohnter Stelle, nämlich bei NEØLYD, wurden mir die Friends of Gas, eine junge fünfköpfige Gruppe aus München, über deren Namen Nadine Lange vom elenden "Tagesspiegel" sich im Oktober 2016 bereits entsetzt ausließ (Gas gehe doch mal so überhaupt nicht!), ins Bewusstsein katapultiert, die vieles macht, was ich mag, nämlich zum Beispiel Postpunk mit deutschen Texten.

    Es sind die Fehlfarben eine sich aufdrängende Assoziation, weil auch Sängerin Nina Walser mit einer ähnlichen Gesangstechnik (nämlich: keiner) aufzuwarten weiß wie Peter Hein und stattdessen dem nicht abgeneigten Hörer mit ihrer markanten heiser-rauchigen Stimme und mitunter steigender Intensität ("Template", "Einknick") emotionsgeladenen Nihilismus entgegenschleudert, als müsste sie ihr Leben mit ihm verteidigen; konsequent wird deren "Es geht voran" in "Kollektives Träumen" nicht nur zitiert, sondern mit der harten Realität konfrontiert: "Es geht nach vorne, es geht voran; Geschichte wird gemacht, doch nicht von mir und nicht von dir", weil es ja immer auch so ein Problem mit doppelten Textböden gibt.

    Die Klangbasis für diese Vokalaggression bildet ein krautrockiges - möge die inflationäre Genreverwendung das Genre als Begriff bald erübrigen! -, hartes Fundament aus pochendem Bass und schneidender Gitarre, so 80er zwar, aber doch ohne einen Anflug von Alterung, worum man es nebenbei ein wenig beneidet. Aufgewühlt hinterlässt "Fatal schwach" den Fühlenden bedingungslos, ein Frustabbau in sieben Liedern. Famos!

    Reinhören: Von offizieller Seite gibt es ein paar Videos, das ganze Album liegt auf Amazon.de sowie TIDAL herum.

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  9. Crippled Black Phoenix - Bronze (Cover)
    "Now we set fire to the sky, sick of war and sick of fighting" (Champions of Disturbance)

    2012 machte ich den Fehler, ein Album von Crippled Black Phoenix schlicht ermüdend zu nennen, denn das bleibt beim Publikum haften. Ich weiß doch, dass sie es besser können, ist "We Forgotten Who We Are" von, allerdings, einem anderen ihrer Alben doch auch nach Jahren eines dieser Stücke, an dem ich mich irgendwie nicht satthören kann.

    2016 erschien mit "Bronze" nunmehr ein neues Album der gewohnt reformierten haarigen Gruppe um Justin Greaves, der außerhalb der Bühne, wie man so liest, den Großteil der Bandwerke quasi allein einspielt; vom letzten Album "White Light Generator" (2014) ist ungewohnterweise auch der Posten des Sängers mit Daniel Änghede besetzt geblieben, was in dieser Combo durchaus bemerkenswert ist. Auch sonst ist "Bronze" ein eher ungewöhnliches Album, ein ziemlich dunkles, düsteres nämlich, selbst im nicht gerade von jauchzendem Frohsinn geprägten Crippled-Black-Phoenix-Universum.

    Der gewohnt druckvolle Alternative Rock der Band findet in "Bronze" ein Postmetalgegenstück. Getragene Melodien sind ihrer Sache diesmal nicht, dies allerdings sozusagen mit Ansage: "In the beginning there was darkness"; wie ein Weltraumepos beginnt "Dead Imperial Bastard" mit einer gesprochenen Einleitung, die Schlimmes erahnen lässt. Tatsächlich entwickelt sich über die nächsten fünf Minuten ein Instrumentalstück, das Pink Floyds - Ping! - "Echoes" nicht nur erahnen lässt, wenn auch wie auf einem kargen, verlassenen Wüstenplaneten aufgenommen. Das hysterische Gelächter am Ende (auch dies wohl eine Anleihe an deren "Meddle"-Album) leitet über in das erste richtige Lied mit dem nicht minder unfröhlichen Titel "Deviant Burials", in dem alle acht gegenwärtigen Bandmitglieder mal so richtig losriffen dürfen, bevor bassdröhnende Psychedelic mit Countryunterton die Wilden vorübergehend zähmt. Daniel Änghede gibt hierbei den etwas jammerigen, nuschelnden Indie-Rock-Frontmann, als hätte Brian Molko versehentlich Singen gelernt und/oder als sei's Josh Homme, dessen Bands mir andererseits auch recht egal sind. Nicht spaßig? "No fun", das nächste Stück, beginnt abermals mit Sprach-samples, der anschließende Gesang ist hingegen recht angenehm in den Hintergrund gemischt, so dass der Mark erschütternde Bass die Kontrolle behalten kann. Ist Progressive Metal ohne Quietschkeyboards noch Progressive Metal? Ach, Genres, drauf geschissen, im nächsten Lied "Rotten Memories" haben wir sowieso schon wieder was anderes im Ohr (ich würde beinahe Metallica oder Kid Rock anführen wollen, aber das würde Crippled Black Phoenix wiederum Unrecht tun).

    Kleinkram, Großkram. "Champions of Disturbance (pt. 1 & 2)", nebenbei ein Mittelfinger für Liedlängenanalysten, ist mit 9:02 Minuten das zweitlängste Stück auf "Bronze" und hüllt den trotz allem erstaunten Hörer in eine perlende Synthie-Groove-Decke mit wahnwitziger Perkussion ein, bis es nach vier Minuten zur ersten Eruption kommt, nur um direkt überzuleiten in Teil 2, dessen galoppierender Rhythmus ihm dermaßen das Hirn verknotet, dass er den längst eingeprägten Gesang fast wie hinter Schleier wahrnimmt. Grandios und eigentlich allein schon den Kauf so was von wert. - Aber es geht ja noch weiter, erst einmal etwas ruhiger ("Goodbye then"), bevor es mal wieder eine Überraschung gibt: "Turn to Stone" ist ein Joe-Walsh-Cover im zumindest angemessenen Classic-Rock-Gewand. Mit "Scared and alone" (gesungen, fast gesäuselt, von Belinda Kordic) finden Crippled Black Phoenix auf ihre Spur zurück, noch etwas zerbrechlich, aber schnell wieder Kraft tankend, um in "Winning a Losing Battle" (9:14 Minuten) abermals dem dunklen Indie-Rock zu huldigen. Abschließend gibt es mit "We Are The Darkeners" ein Lied auf bzw. in die Ohren, das seinen Namen zu Recht trägt, denn heller wird es mit weinender Gitarre und Postpunkattitüde nicht mehr. Ein weiteres Sprach-sample beschließt die musikalische Bronzezeit. Was bleibt, sind Melancholie und Düsternis.

    Ist ja auch mal schön.

    Reinhören: Bandcamp.com stellt - mit Ausnahme zweier Bonuslieder - einen Komplettstream zur Verfügung.

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  10. Giraffe Tongue Orchestra - Broken Lines (Cover)
    "Now you have a choice to suck up what they give you" (Back to the Light)

    Alles furchtbar traurig 2016? Nein, nicht alles, auch der Spaßrock hat sich keine Pause gegönnt; zum Beispiel erschien mit "Broken Lines" das Debütalbum der Supergroup Giraffe Tongue Orchestra.

    Das Giraffe Tongue Orchestra besteht zurzeit aus derzeitigen und früheren Mitgliedern von Alice In Chains (William DuVall, Gesang), Mastodon (Brent Hinds, Gitarre), Ben Weinman (The Dillinger Escape Plan, ebenfalls Gitarre), Pete Griffin (Dethklok, Bass) und Thomas Pridgen (The Mars Volta, Schlagzeug). Daraus sollte keinesfalls gefolgert werden, was da am Ende für Musik rauskommt - meine erste Assoziation beim Anspielen von "Broken Lines" nämlich hieß, Anglophonie zum Trotz, Die Ärzte, die musikalisch jedenfalls auf ihren neueren Alben tatsächlich so Momente haben.

    Na, noch alle Leser da? Gut, denn meinen ersten Eindruck revidierte ich schon schnell, als aus dem Anspielen ein Anhören wurde und sich das, was Giraffe Tongue Orchestra dem Genießer eigentlich mitteilen wollen, in einer fast verstörend sich einbrennenden Melange aus Mr. Bungle, Faith No More, Bad Religion sowie dann und wann etwas Meshuggah und mancherlei Mathrock in den Kopfhörer respektive Lautsprecher ergoss. Bei quasi massentauglichen Liedlängen von stets unter sechs Minuten bleibt die Frage, ob die Zeit zur Entfaltung denn wohl reiche.

    Und das tut sie tatsächlich: Polyrhythmische Rockkracher ("Crucifixion", "No One Is Innocent" u.a.) beherrschen "Broken Lines", gefüttert von wenigen ruhigen Momenten ("All We Have Is Now"), in denen William DuVall mich vorübergehend fast ein bisschen langweilt (ist eben einfach nicht meine Musik), aber eben auch nur fast, denn nach wie vor überwiegt das Rockige. "Broken Lines" ist kein Album zum Nachdenken, keines, das sich erst beim aberdutzendsten Durchlauf erschließt, wer Musik also unbedingt als Kopfsache begreifen möchte, der ist hier falsch. (Es ist ja nun nicht so, dass mir solches nicht gelegentlich auch als Vorwurf begegnet.) Solide und ausreichend spannend für einen kleinen Fingerzeig ist "Broken Lines" aber allemal. Ich zeige dann mal drauf.

    Reinhören: Amazon.de. TIDAL. Weiter im Text.

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  11. Axon-Neuron - Metamorphosis (Cover)
    "The future is confused through the fragments of the past" (Shattered)

    Was sind das eigentlich für Liedtitel? "Shattered", "Erasure", "Silence", immerhin auch "Kafka"; wollen Axon-Neuron hier Übles heraufbeschwören? Nein, im Gegenteil!

    "Metamorphosis" ist ein Progressive-Rock-Album aus ausgerechnet den USA, das trotz aller Verneigung vor den Klassikern nie anbiedernd oder gar angestaubt klingt, obwohl es gleichzeitig die meisten Klischees schon vor dem ersten Hören erfüllt: "Metamorphosis" ist ein Doppelalbum aus zweimal acht Stücken, wobei jedes der beiden Teilalben, das zweite etwas ausdauernder als das erste, mit einem Präludium ("Prelude") beginnt und einem Postludium ("Postlude") endet. Das klingt nach Klassik? Oh, ja, und zwar in einem Ausmaß, das mir das "Death Defying Unicorn", eines dieser anderen klassikorientierten Progressive-Rock-Alben, fast konkurrenzlos zum Album des Jahres 2012 machte, denn auch "Metamorphosis" erhält seine Stärke durch etwas, was längst als abgeschrieben galt; durch den Jazzrock nämlich.

    Wobei das erste "Prelude" kompositorisch zunächst einmal an das zu Unrecht fast vergessene Penguin Cafe Orchestra erinnert, bevor es sich im Stile alter Sinfoniewerke (als, Verzeihung!, Klassikbanause würde ich Smetana als ungefähre erste Verbindungsstelle setzen wollen) ausbreitet. Es dominieren Saiteninstrumente. Dass das nur die Einleitung ist, wird in "Euclid", in das das Präludium übergeht, deutlich, in dem Bandgründer und Multiinstrumentalist Jeremey Poparad seine Gitarre Arpeggien über einem soliden Bandfundament singen lässt, bevor Sängerin Amanda Rankin zu Schlagzeug-, Bass- und Glockenspielbegleitung irgendwas über parallele Linien singt, die niemals einander schneiden, was leider schon vor mir jemanden zu der Feststellung verleitete, dass wir es hier wohl mit Mathrock zu tun haben. Vergleiche so weit: Stolen Babies, Bent Knee (allerdings weit weniger verrückt) und Thinking Plague. RIO/Avant ist bei Axon-Neuron jedenfalls offenkundig willkommen. Im folgenden Stück "Suspicions" wiederum haben wir es mit etwas Jazz zu tun, der sich mit verschlepptem Rhythmus langsam zu einem veritablen Progressive-Metal-Stück entwickelt, das noch dazu immer schneidender wird, nur um dann überzugehen in die anfangs balladeske Grundstimmung von "Shattered", das, wie sollte es anders sein?, sich in einen ziemlich verspielten Progressive Metal ergießt. "Koan" ist ein leider recht kurzes, um so überzeugenderes Jazzstück mit Canterbury-Anklängen; wie der Canterbury Sound auf "Metamorphosis" sowieso immer mal wieder unklar hervorblitzt, ebenso vielleicht auch der Jazzmetal von Weltpinguintag oder Panzerballett ("Eyes", "Summit").

    Auch auf Teilalbum Nummer zwei geht es vielfältig zu, ohne dabei bemüht zu klingen. Das Zusammenspiel zwischen Band und Orchester sorgt für fantastische Augenblicke und noch fantastischere Stimmungen. Wo sonst findet man Klassik und Avantrock so gekonnt verwoben wie in "Kronos", das klingt, als würde man mit gebrochenem Herzen ausgelassen tanzen gehen? Wo sonst wird man so verzwirbelt weggeblasen wie in "Kafka"?

    "Metamorphosis" ist zweifellos großartig. Ich bin sehr gespannt, was in den folgenden Jahren noch von dieser Band zu erwarten ist.

    Reinhören: Ach was, Komplettstream, und zwar auf Bandcamp.com.

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  12. Jambinai - A Hermitage (Cover)

    Was wäre ein Jahresrückblick ohne einen anständigen "WTF!"-Moment? Unvollständig wäre er. Zum Glück kommt Abhilfe aus Südkorea.

    Das asiatische Land war 2016 vor allem wegen explodierender Taschentelefone, nicht jedoch wegen seiner musikalischen Exportprodukte in den Nachrichten zu sehen. Das ist zwar durchaus verständlich, denn der letzte namhafte südkoreanische Musiker, der reichlich Beachtung und Zuspruch bis in die hintersten Ecken des Internets fand, war vor einigen Jahren Psy, dessen ärgerliches "Gangnam Style" eigentlich manchen Anlass zur pauschalen Schlechtfindung koreanischen Pops gäbe. Nun ist Jambinai allerdings erfreulicherweise auch keine Popband.

    Im Kern handelt es sich um ein Trio, das sich vage im musikalischen Terrain von tesa einer- und Tool andererseits aufhält, für "A Hermitage" noch unterstützt durch Hyeseok Oh (Schlagzeug) und Ignito (Rap; dazu gleich noch etwas mehr). Die drei wesentlichen Bandmitglieder spielen nicht etwa nur Gitarre und Bass, sondern außerdem Haegeum, Piri und Geomungo, das eine Art tieftönende Zither und eines der Leadinstrumente in den meisten Stücken ist. Wir lernen beim Hören von "A Hermitage" also quasi nebenbei ein wenig über koreanische Musikkultur statt der immergleichen Neuinterpretation westeuropäischer Einfälle. Das ist ja auch schön, Musik sollte ja immer mehr bleiben als bloßes Geräusch.

    Dabei ist "A Hermitage" selbst an Geräuschen nicht arm. Schon das eröffnende "Wardrobe" ist ein Klangspektakel mit stampfendem Rhythmus zu metallischen Schreien (großartig: Ilwoo Lee) und mit 3:07 Minuten eigentlich viel zu kurz. Spätestens im folgenden "Echo of Creation" gibt es kein Halten mehr: Das ungewohnte, aber überragend gute Zusammenspiel aus fordernder Zither und jaulender Geige, hinter dem die dagegen ankämpfende Gitarre völlig untergeht, endet abrupt nach nur einer Minute, um ein wenig schöne, gar: psychedelische Atmosphäre zum bedächtigen Mitschwingen zu schaffen, bis die Lust am Krach in Gestalt von Hyeseok Oh wieder alles in Scherben trommelt. Die fünf Koreaner haben, wenn ich's mal so schreiben darf, Hummeln im Hintern. Ich mag Hummeln.

    Es ist ja nicht so, dass sie nicht auch ganz anders könnten: Das siebenminütige, instrumentale "For Everything That You Lost" könnte, wäre da nicht der offenkundige Einschlag von asiatischer Folklore, auch von einem der zahlreichen Nebenprojekte der Mitglieder von Godspeed You! Black Emperor stammen, Laut-Leise-Spiel inbegriffen. Überwiegend ist einfacher Postrock ihre Sache aber nicht, wie bereits das folgende "Abyss", abermals getragen von der unverwechselbaren Geomungo, beweist, das die ziemlich einmalige Musik von Jambinai mit dem Sprechgesang des koreanischen Rappers Ignito, natürlich in der Landessprache, verbindet - und das klingt sogar für den verwunderten Rezensenten, der andererseits auch schon wirklich furchtbaren Rap gehört hat, als wäre es die offensichtlichste aller möglichen Kombinationen.

    "Abyss" bleibt aber eine Ausnahme auf "A Hermitage", denn im Weiteren sind den Koreanern ihre Instrumente wieder wichtiger als ein gutes Gespräch. "Deus Benedicat Tibi" klingt ziemlich unchristlich, es springt vom Duett aus Schlagzeug und Haegeum, das an sich schon klingt, alswürde gleich etwas explodieren, ohne weitere Vorwarnung über in ein Free-Jazz-Durcheinander, dem nur die Rhythmusabteilung eine lose Form zu geben vermag. So, jetzt drehen wir mal kurz durch. Danach darf sich auch kurz ausgeruht werden: "The Mountain" gönnt anfangs ein wenig Entspannung, findet aber schon nach wenigen Minuten den beat wieder und schließt herrlich noisig dröhnend, was mich an manche japanische Postrockband erinnert. Asien, du bist wirklich seltsam. - Die musikalisch begleitete Geräuschcollage "Naburak" sticht selbst auf "A Hermitage" noch als reichlich seltsam hervor, das letzte Wort auf "A Hermitage" hat aber "They Keep Silence", das einzige Lied im Wortsinne, in dem die Musiker den Untergang der Fähre Sewol im April 2014 verarbeiten; nicht etwa klagend, sondern aggressiv, was dem Gefühl der meisten Südkoreaner, geht es um das Unglück, zumindest deutlich näher sein dürfte.

    "A Hermitage" ist, Gesellschaftskritik eingeschlossen, große Kunst im besten Sinne. Es lohnt sich, sich ihr mit Neugier zu nähern.

    Reinhören: Auf YouTube gibt es ein Video zu "They Keep Silence", auf Amazon.de sind die gewohnt zu kurzen Tonschnipsel zu hören. Das ganze Album, wie gewohnt, mag man nach Belieben per TIDAL streamen.

Könnt ihr noch? Gut, ich beeile mich:

1b. Kurz und knackig

  • Gong - Rejoice! I'm Dead!

    Eine im Durchschnitt verjüngte Combo tritt - wenn auch weniger durchgeknallt - auf dessen Geheiß das Erbe Daevid Allens auf gewohnt hohem Niveau an und debütiert mit einem starken Album mit ungewohnt deutlichem Canterbury- und Symphonic-Prog-Einschlag.

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  • Neurosis - Fires Within Fires

    Endlich mal ein Album von einer Band, die spielt, wie sie heißt, das heißt, wie es klingt.

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  • Gandalf's Fist - The Clockwork Fable

    Eine bemerkenswerte weitgehend britische Musikcombo mit albernem Namen und Progressive-Rock-Hintergrund vertont gemeinsam mit Leuten, die das beruflich machen, eine fantastische Retro-Prog-Dystopie über eine postapokalyptische Welt als Hörspiel in drei Akten alias CDs.

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  • Oranssi Pazuzu - Varahtelija

    Wenn die oben empfohlenen Neurosis euch noch zu wenig Druck aufbauen, könnten Oranssi Pazuzu aus der Heimat des bösen Metals, Finnland nämlich, euren Ansprüchen kraftvoll genügen.

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  • Asteroid - III

    In einem enorm vielschichtigen Stoner-Rock-Album machen Asteroid aus Örebro vieles richtig, was andere in die Beliebigkeit treibt, indem sie nicht bloß nach Schema F den heavy psych abspulen, sondern dem Hörer mit dem Auftürmen immer neuer Schichten einige Aufmerksamkeit abverlangen, für die er dann allerdings auch reich belohnt wird.

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  • pg.lost - Versus

    Dieses Album besteht aus höchst angenehmem instrumentalem und obendrein schwedischem Postrock in der Breitwandversion, der seine sozusagen geistige Verwandtschaft mit Artrock ("Along the Edges") und Metal ("Versus") nicht zu verbergen versucht, sondern stolz als Jagdtrophäen über dem Kamin präsentiert.

So weit zu den guten Nachrichten. Gibt es auch schlechte? Natürlich: Wir blieben auch 2016 nicht von scheußlichem Schund verschont. Früher haben die Leute sich aus Selbsthass irgendwas aufgeschnitten, heute rate ich ihnen stattdessen zu einem dieser Produkte:

2. Würg!

  • The Claypool Lennon Delirium - Monolith of Phobos

    Claypool! Lennon! Leider aber auch nur: Delirium!

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  • Fire! Orchestra - Ritual

    Dieses Ritual ist höchstens ein müder Funke.

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  • Hattler - Warhol Holidays
    Warhol würde vor Langeweile gleich ein zweites Mal sterben.

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  • Archive - The False Foundation
    Als Sammlung von Kinderliedern vielleicht gerade noch erträglich, leider mag ich keine Kinderlieder.

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  • Donny McCaslin - Beyond Now
    David Bowies Zöglinge führen seine Tradition der öden Popmusik gnadenlos fort.

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  • Dungen - Häxan
    Bei allem geschichtlichen Firlefanz, der hinter diesem Album steht, haben sich Dungen dennoch wahrlich keinen Gefallen mit ihrem ersten Instrumentalalbum getan.

Wie immer beenden wir den Rückblick des Jahres mit ein wenig Geschichte:

3. Es war ja nicht alles schlecht.

  • Vor 40 Jahren:

    Im Jahr 1976 wurde das erst seit fünf Jahren bestehende Mahavishnu Orchestra für ein paar Jahre auf Eis gelegt, Gitarrist und Gründer John McLaughlin widmete sich in den kommenden Jahren anderen musikalischen Projekten. Als das Mahavishnu Orchestra 1984 neu formiert wurde, gab es eine andere Band, die ebenfalls 1976 gegründet wurde, schon gar nicht mehr, nämlich Joy Division, deren Nachfolger New Order völlig andere Musik hervorbringen. Bis heute die immer gleiche Musik kommt indes von BAP, gleichfalls seit 1976 im Geschäft; was nicht unbedingt sein müsste. Vielleicht war die Zeit für einen musikalischen Umbruch aber auch einfach reif, denn sowohl die neuen Alben von Bob Dylan (Desire) als auch Soft Machine (Softs) blieben mau. Einzig das von John Cale produzierte Debüt- und gleichzeitig letzte Studioalbum der jungen Artrockband The Modern Lovers, die zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr existierte, das vier Jahre nach seiner Entstehung endlich eine Plattenfirma fand, ließ aufhorchen, bot es doch eine erstaunlich eigenständige Rockmusik zwischen den Rolling Stones und natürlich The Velvet Underground, wenig gefälligen Gesang eingeschlossen. So was wird heute ja gar nicht mehr produziert.

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  • Vor 30 Jahren:

    1986 waren The Velvet Underground allerdings trotzdem noch nicht vergessen; mit Another View veröffentlichte Verve Records, deren Mutterkonzern MGM 1969 den Fehler machte, die wenig Umsatz erzeugende Band aus ihrem Vertrag zu entlassen, eine Sammlung von übrig gebliebenen Liedern, die es zum Teil auf Loaded (1970), zum Teil in Lou Reeds Solowerk schafften. Sonic Youth hielten die Fahne des dissonanten Noiserocks 1986 selbst noch hoch, das dritte Album EVOL gehört nicht zu ihren schlechtesten. Die Luft für die Alten wurde allerdings zusehends dünner: Dem letzten Auftritt der Smiths und der Auflösung von Asia und Neu! stand die jeweilige Gründung von Bands wie Roxette und No Doubt entgegen. Die gleichfalls 1986 gegründeten Pixies und Slint versteckten sich scheu hinter den neuen Musikalben von Nazareth, AC/DC, Judas Priest und Metallica. Es waren merkwürdige Zeiten.

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  • Vor 20 Jahren:

    Zehn Jahre später war die Situation keineswegs übersichtlicher geworden. Take That lösten sich auf, die keineswegs irgendwie besseren Backstreet Boys veröffentlichten derweil ihr Debütalbum. Die Mädchenschwarmmusik war zeitweise wie eine Hydra - und ihre Köpfe wurden immer größer. Klein fing 1996 Eminem an, dessen Infinite den Grundstein für eine damals noch kaum abzusehende Karriere sein sollte. In der Vergangenheit wühlten Neutral Milk Hotel, deren Debütalbum On Avery Island die Brücke vom Garagenrock zum Indie-Rock nicht nur schlug, sondern gleich noch einzementierte. Noch offensichtlicher nahmen The Brian Jonestown Massacre die Siebziger auf's Korn; Their Satanic Majesties' Second Request war nicht nur namentlich mehr als nur eine bloße Verneigung vor dem völlig unterschätzten Rolling-Stones-Album ähnlichen Namens. Inzwischen hatten drei der Mitglieder der angenehm verrückten Alternative-Metal-Band Mr. Bungle sich unter dem Namen Secret Chiefs 3 zusammengetan und mit First Grand Constitution and Bylaws wiederum ihr Weg weisendes Debütalbum veröffentlicht; auch 2017 kann von einer Auflösung noch immer nicht die Rede sein, mindestens ein neues Album ist für 2017 geplant. Das ist recht willkommen.

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  • Vor 10 Jahren:

    2006 erlebte der Postrock eine neue Hochzeit: Long Distance Calling wurden gegründet und Mogwai veröffentlichten mit Mr. Beast einen Genreklassiker. Wer lieber laute und böse Musik hören wollte, der musste auf das Debütalbum von Nick Caves neuer Band Grinderman noch bis 2007 warten, konnte sich bis dahin aber immerhin mit dem Thrash-Metal-Album Ever-Arch-I-Tech-Ture der belgischen Band Axamenta behelfen, dessen Schubladeneinsortierung empfehlenswerterweise niemanden vorurteilsbedingt vom Reinhören abhalten sollte. Wer keine Überraschungen mag, dem kredenzten 2006 wenigstens The Strokes mit First Impressions of Earth Bewährtes, nämlich - guten Hitparadenplatzierungen zum Trotz - gewohnt Gutes, mithin erstmals als "Parental Advisory" Gekennzeichnetes, was in den prüden, aber erschreckend schießwütigen USA sicherlich irgendwas bedeutet, hierzulande aber schon fast einer Auszeichnung gleichkommt. Wer hier ankommt, der hat es geschafft. The Strokes jedenfalls haben es.

Damit ist das musikalische Jahr 2016 - zumindest von meiner Seite aus - endlich abgeschlossen. Ergänzungen werden, wie gewohnt, gern gesehen, ansonsten hoffe ich, dass auch diesmal etwas für euch dabei war. Die nächste Rückschau kommt bestimmt, 2017 wirkt diesbezüglich vielversprechend.

Freuen wir uns darauf!
Ein intelligenter Mensch ist manchmal gezwungen, sich zu betrinken, um Zeit mit Narren zu verbringen.
(E. Hemingway)
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